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Ausgabe #5

Entertainment als Denkvorgang
Neue Realitäten und ein
Gespräch mit Rimini Protokoll

Z

unächst: ich bin kein Theater Fan. Zu viel gesehen, was mit meiner Realität nichts zu tun und mir kaum etwas zu sagen hatte.

Aber die hier sind anders. Und machen Theater ohne sich klassischer Schauspieler zu bedienen. Sie verfrachten Experten des Alltags - so nennen sie normale Menschen, die über Kenntnisse, Erfahrungen oder Fähigkeiten in einem bestimmten Themenbereich verfügen - auf ihre Bühne und lassen diese aus ihrem Leben erzählen.

Reale Lokalpolitiker tauchen auf einmal in einer Wallenstein Adaption auf und erzählen von politischen Intrigen im kommunalen Bereich. LKW Fahrer berichten einem Theaterpublikum, das auf 47

Sitzplätzen quer zur Fahrtrichtung auf einem LKW positioniert ist, von ihrem LKW-Fahrerleben und kutschieren das Publikum umher. Zwischendrin werden die seitlich eingebauten Glasscheiben freigegeben und das Publikum blickt fortwährend im LKW sitzend auf die eigene Stadt.

Rimini Protokoll schreiben Statistische Jahrbücher zu Bühnenstücken um, lassen eine 17 stündige Bundestagsdebatte von politischen Laien nachspielen - man stelle sich das bitte vor: beliebige normale Menschen stehen am Pult des Deutschen Bundestages und sprechen Wort für Wort die Reden der Politiker nach, immitieren Worte, Gesten und Ausdruck.

Die Mitglieder des Regie Labels wechseln zwischen Bildender

Kunst, Hörspiel und Theaterinszenierungen, arbeiten mal als Einzelperson, mal zu zweit und dann wieder alle drei zusammen. Die Frage, ob sie ein Kollektiv sind, verneint ein Mitglied kategorisch, ein anderes meint: na klar. In welcher Form auch immer sie zusammen arbeiten, sie nutzen ihre unterschiedlichen Ansätze und Eigenheiten auf fruchtbarste Art und Weise. Sie sind auf der Suche nach einer anderen Realität, und wollen sich bewusst keiner Kategorie zuordnen lassen, so dass ihre Arbeit immer wieder Einordnungsprobleme bereitet.

Auch wenn sich das Reden über Kunst und verwandte Spielarten oft theorielastig gestalten kann, sind diese drei handfest und sich mehr als bewusst, was sie da losgetreten haben. Das

herkömmliche Theater hat sie vornehmlich genervt, und alleine das macht sie sympathisch. "Das Theater ist nicht der Ort, um zu bewundern. Das ist der Zirkus." Die Radikalität ihres Theateransatzes lässt sich zwar beschreiben, kann jedoch nicht den Besuch ihrer Theaterstücke ersetzen.

Denn ihre Experten des Alltags auf der Bühne zu sehen, kann einer kleinen Offenbarung gleichkommen. Man versteht zunächst überhaupt nicht, dass die Akteure keine Schauspieler sind und je länger das Stück läuft, um so mehr ahnt man, mit wem man es da zu tun hat.

Als sie 2007 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurden, gab es ein leichtes Grummeln in der Theaterlandschaft.

Sind diese Art der Aufführungen überhaupt Theater, und kann man für diese Arbeit einen Dramatikerpreis vergeben? Rimini Protokoll bekamen jedoch die Auszeichnung, denn die Inszenierung und die zugrunde liegende Dramaturgie des Spiels bleiben bestehen.

Der Grossteil ihrer Arbeit besteht in der Recherche, dem Casting der richtigen Darsteller - nämlich den Experten - und der Konzeption des Stückes. Die Probe des Stückes nimmt oft den geringsten Teil ein, weil ab diesem Zeitpunkt die Darsteller das Stück übernehmen.

Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel sind dokumentarisch inszenierende Soziologen, Nouveau Réalisme mit einer tiefen Skepsis gegenüber der Praxis des immergleichen

Regietheaters, das sich alleine auf eine vermeintliche Genialität einer einzelnen Person berufen will. Ihre Realität sieht anders aus.

Im April 2008 wird Rimini Protokoll der Europäische Theaterpreis verliehen werden. Kategorie: Neue Realitäten.

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